Symbiose aus
Funsport und Tradition
von Thorsten Waterkamp
„Du hast ja ’nen Seglerarsch.“
Recht hat er, der Mann am Ruder: Das Textil an meiner Kehrseite hat den
Feuchtigkeitsgrad eines tauchenden Waschlappens erreicht. Ich lache
– und liege verkehrt mit meinem Verständnis für maritimen Sprachgebrauch.
Volker Menneking hat seinen Spaß, während das Wasser des Emmerstausees
an meiner Jeans leckt. Sportsegeln in Lippe: Versuch macht klug.
Es ist Mittwochnachmittag, das Gewitter hat sich verzogen und der Wind
auch. Volker Menneking, Vorsitzender und Mitbegründer des Segel-Clubs
Schieder-Emmersee (SCSE), bringt die knapp fünf Meter lange Jolle
dennoch zu Wasser. Die großen dunklen Wolken im Norden lassen ihn
hoffen: „Da gibt’s noch ’mal Wind.“ Der Mann wird recht behalten.
Sportsegeln, das heisst im Deutschland der 90-er Jahre Symbiose: Funsport
und Tradition. 190 000 Freizeitskipper sind im Deutschen Segler-Verband
in Hamburg gemeldet, davon 30 000 Jugendliche. Die wahre Aktivistenzahl
dürfte um ein Vielfaches höher liegen, glaubt Hubert Mertelsmann,
Vorsitzender des ebenfalls auf dem Emmerstausee beheimateten Segel-Clubs
Hameln. Alte Verbandsstrukturen macht Mertelsmann dafür verantwortlich,
dass viele dem Verband fern bleiben. Einbußen von 10 000 Mark an
Mitgliedsbeiträgen allein beim Landesverband Niedersachsen seien die
Folge: „Das ist ein Drittel unseres Haushaltes.“
An Bord spielen Statuten keine Rolle, ungeschriebene Regeln dafür
umso mehr. „Also, Herr Graf soundsoundsoweiter. Lange Anreden sind umständlich,
ich bin Volker“, sagt mein Steuermann und reicht mir die Hand, kaum dass
wir den Steg hinter uns gelassen haben. Immer noch kaum Wind. Kein Luv,
kein Lee – Flaute. Und doch bewegt sich der Jeton langsam Richtung Seemitte.
Jeton, das ist eine der unzähligen Bootsklassen, deren Unterschiede
sich einem Segellaien ähnlich verschließen wie die seemännische
Knotenlehre. Allein neun olympische Bootstypen gibt es zur Zeit, darunter
nicht nur herkömmliche Boote, sondern beispielsweise auch das Surfbrett.
Das größte Wettkampfboot heißt Soling - das 8,15 Meter
lange Kielboot wird von einer dreiköpfigen Besatzung gesegelt. Die
Jetons zählen nicht zu den olympischen Bootskategorien, sie haben
nur nationale Bedeutung.
Und lippische: Denn der SCSE ist auf dem Weg zu einem der bundesdeutschen
Zentren des Jetonsegelns, wie der Horn-Bad Meinberger Stefan Giefers weiß.
Der 23-Jährige segelt in dieser Klasse mit seiner Schwester Christiane
um Platzierungen in der nationalen Jeton-Bestenwertung. Noch vor dem SCSE
gehören der Postdamer Yachtclub, der Segelclub Wannsee Berlin und
der Segelclub Maria Laach zu den Jeton-Hochburgen.
Wind. Das Boot macht Fahrt. Als Vorschoter sitze ich in Höhe des
Mastes und soll dafür sorgen, dass das Vorsegel seinen Mann in der
Brise steht. Eine kräftige rote Leine, die Schot, anziehen. Oder nachlassen.
Also dichtholen. Oder fieren. Volker gibt die Kommandos, sagt an, wenn
die nächste Richtungsänderung ansteht. Meist kurz vorm Ufer.
Wende. 1,83 Meter Sportredakteur machen sich klein und gehen dem Baum
aus dem Weg, der das Segel von backbord nach steuerbord oder retour führt.
Setzen. Und wieder weit hinauslehnen, Gegengewicht für den Wind. Der
drückt das Boot in Schräglage. Das Wasser spritzt. Segelspaß.
Den Spaß gibt’s schon ab sieben Jahre. Ab diesem Alter können
Kinder segeln lernen, die Ausbildung baut sich auf bis hin zur Hochseesegelei.
Sinnvolle Einstiegsmöglichkeiten für Landratten gibt es zwei:
über einen Verein oder über eine Segelschule. Urlaubsangebote,
die mit dem Grundschein enden, seien mit Vorsicht zu genießen, sagt
Hubert Mertelsmann. Denn viele dieser Lizenzen seien auf vielen Gewässern
nichts wert - wie zum Beispiel auf dem Emmersee.
„Du hast ja ’nen Seglerarsch.“ Sagt Volker und meint etwas anderes,
als ich nach einen Griff an mein Hinterteil denke. Ich hätte Gefühl
fürs Boot, glaubt der Steuermann, weil ich automatisch mein Gewicht
verlagert habe, als der Wind den Jeton in die Schräge drückte.
Vielen Dank für die Blumen; aber das Gefühl ist wohl relativ.
Denn als ich nach dem einstündigen Stauseetörn auf den Anleger
springe, kentere ich fast das Boot. Meinen Wasser-Fall kann ich gerade
noch verhindern - ich rette mich auf die Planken des Steges. Sitzend. Auf
meinem Seglerarsch.